Bis zum letzten Wienerla

Bis zum letzten Wienerla
(Frankenpost, 29./30. November 1997)

Einkaufstag in Hof. Zahlreiche auswärtige Besucher aus dem nahen Sachsen beleben die Stadt. "Schau mal", sagt ein Tagestourist zu seiner Frau, "das ist jetzt schon der dritte Würstchenmann auf den letzten 50 Metern."
Der Mann beweist gute Beobachtungsgabe. Der alte Berufsstand des Wärschtlamos erlebt derzeit eine ungeahnte Blüte. In den vergangenen sechs Monaten, sagt Heiko Pudel vom Hofer Ordnungsamt, habe es "viele Anfragen" gegeben, welche Voraussetzungen zu erfüllen zu seien, Brühwürste zu verkaufen. Tatsächlich hätten sich aber dann nur vier Bewerber entschlossen, das harte Geschäft zu betreiben. Schließlich sei es nicht jedermanns Sache, bei Wind und Wetter, Sonne und Regen im Freien stundenlang an einem Platz zu stehen und heiße Wienerla, Bauern, Knacker und Weißwürste feilzubieten.
Der Wärschtlamo hat Tradition in Hof. Vor über 130 Jahren verdiente sich so erstmals ein Hofer sein Brot. Und da dieser Berufsstand, wie er in der Saalestadt ausgeübt wird, bundesweit beispiellos ist, macht der Wärschtlamo längst Reklame für "Hof in Bayern ganz oben". Werbewirksam tritt er auf, wo immer die Stadt sich präsentiert.

Werbeträger

Ja, sogar ein Denkmal haben die Stadtväter dem Wärschtlamo schon gesetzt. Am Sonnenplatz steht’s, gegenüber der Marienkirche, etwas unterhalb der Altstadt. Dort hinauf lässt der Künstler die in Stein gehauene Figur blicken. Ob er ahnte, dass genau hier sich einst ein erbitterter Streit um Standplätze, Berufsethos und Würste entzünden sollte?
Den Wärschtlamännern geht’s buchstäblich an die Wurst. Der steigernde Konkurrenzdruck ist längst im Geldbeutel zu spüren. Vor allem in der Altstadt wuchs zuletzt der Unmut. Immer mehr Wärschtlamänner sorgten dafür, dass der Umsatz merklich zurückging. Wärschtlamo Werner Narr – er steht vor dem größten Kaufhaus hier – beziffert seinen Verlust auf "etwa zwanzig Prozent". Auf Zahlen festlegen wollen sich die anderen nicht, aber auch sie klagen. Wie etwa Thomas Junghans, der vor der Filiale seines Wurstlieferanten steht: "Es sind ja nicht nur mehr Wärschtlamänner, die den Druck auf den einzelnen erhöhen, es gibt ja auch immer mehr Möglichkeiten für den Passanten, sich rasch mit etwas Essbarem zu versorgen."
Tatsächlich: Es fehlt nicht viel, und die Altstadt könnte sich mit dem Prädikat "Fressgasse" schmücken. Bäckereien bieten bereits Pizza und diverse andere Snacks, eine Metzgerei hat vor ihrem Geschäft einen Imbissstand eingerichtet, ein weiterer Imbiss wird von einem großen Warenhaus betrieben, es gibt eine Gaststätte mit Straßenverkauf, und die Filiale einer Fischhandelskette drängt seit dem Sommer mit ihrem Angebot auch nach außen.

Vier Quadratmeter

Und dazwischen: die Wärschtlamänner. Tapfer verteidigt jeder vier Quadratmeter öffentlichen Grund. Und sie kommen sich deshalb in die Quere. Zwar hat jeder seinen angestammten Platz, ein Anrecht darauf hat er aber nicht. Zumindest nicht vor dem Gesetz. In der nicht zuletzt wegen der Querelen unter den Wärschtlamännern erst jüngst im Stadtrat einstimmig erlassenen "Sondernutzungssatzung für öffentliche Verkehrsflächen der Stadt Hof" heißt es ausdrücklich: "Im Altstadtbereich ist nur die Präsentation von Waren durch Altstadtanlieger und ausnahmsweise der Verkauf von Brühwürsten im Umherziehen erlaubt."
Dieser Passus kratzt am Berufsethos der Wärschtlamänner. Wird dadurch doch dem Spiel der Kräfte auf dem Markt freier Lauf gelassen. Zu einer "Frage des Charakters" wird hochstilisiert, den Platz des andren zu akzeptieren. Was die Sondernutzungsordnung dabei völlig außer Acht lässt: Die Nomaden sind längst sesshaft geworden. Kaum ein Wärschtlamo, der nicht auf seinen Stammplatz pocht.

Stammplätze

Zum Beispiel Werner Narr: In seiner Familie hat der Würstchenverkauf eine fast 70-jährige Tradition; da, wo Narr nun seit fast 30 Jahren steht, verkaufte zuvor sein Schwiegervater Wienerla, Bauern, Knacker und Weißwürste. Nicht anders bei Wärschtlamo Junghans: Der Sohn ist hier in die Fußstapfen des Vaters getreten, als der aufhörte. 1949 hat Helmut Junghans erstmals vor dem einstigen Juweliergeschäft Tworke Stellung bezogen, 45 Jahre trotzte er an einer der zugigsten Ecken der Stadt allen Wetterunbilden. Und ganz kann er auch heute noch nicht von der Arbeit lassen, fast täglich löst er in der Mittagszeit Sohn Thomas ab und verkauft die heißen Wärschtla aus dem blinkenden Messingkasten.
Die Altstadt - sie ist wohl dank der noch gegebenen Vielfalt der Geschäfte die Flanier- und Einkaufsmeile in Hof. Hier ist am meisten los – die Mischung passt: Kino, Cafes, Gaststätten, ein großes Kaufhaus und viele kleinere Modegeschäfte.
Michael Kuchenreuther weiß um die Attraktivität eines Standplatzes dort. Fünfzehn Jahre ist er nun Wärschtlamo und der 39jährige Hofer hat in dieser Zeit schon an vielen Orten gestanden. Am besten sei das Geschäft in der Altstadt gelaufen, versichert er. "Dort oben verkaufst du täglich glatt 100 Paar Würste mehr." Aber als vierter Wärschtlamo in die Altstadt drängen wollte er nicht. "Jeder braucht halt auch etwas Platz für sich." Der Anstand gebiete, das zu respektieren.
Durch eine "längere Zwangspause" verlor Kuchenreuther vor fünf Jahren seinen angestammten Platz vor der Altstadtpassage an Fadi Kalife. Kuchenreuther nahm’s widerspruchslos hin, heute steht er vor einem Modehaus in der oberen Ludwigstraße.
Vornehme Zurückhaltung und Respekt vor dem Platz des anderen gelten in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und immer schärfer werdenden Wettbewerb offenbar immer weniger. Die jüngste Generation Wärschtlamänner drängt in die Altstadt.
Schon hat der Stadtrat ein Einsehen gezeigt und schützt die Zunft. Zumindest im Kernbereich der Stadt. In der Kategorie A – sie grenzt den Bereich der Altstadt ein durch den Oberen Torplatz, die Lorenzstraße zwischen Altstadt und Lorenzgässchen mit Weg hinter der Marienkirche und die Kreuzsteinstraße zwischen Altstadt und Marienstraße – dürfen künftig nicht mehr als zwölf Wärschtlamänner ihrem Gewerbe nachgehen. Der Gedanke dahinter: Eine Inflation kesselbepackter und brötchenkorbschleppender Männer könnte die Traditionsfigur rasch zur Witzfigur verkommen lassen.
Den Wärschtlamännern ist die jetzt festgesetzte Zahl immer noch zu hoch gegriffen. Werner Narr, Sprecher der Hofer Wärschtlamänner: "Wenn jetzt wirklich alle reindrängen, dann sind das doch zu viele." Anderorts, Plauen etwa oder in Bayreuth, haben die Stadtverwaltungen die Obergrenzen viel tiefer gehängt.

Sind 12 zu viele?

Tatsächlich haben derzeit in Hof elf Wärschtlamänner die entsprechende Sondernutzungserlaubnis für die Kategorie A in der Tasche. Dass diese jetzt alle ihr Heil in der Altstadt suchen, danach sieht es momentan zwar nicht aus. Aber sind nicht erst in jüngster Zeit zwei Neue dort aufgetaucht?
C. Samat heißt einer von ihnen. Auf ihn konzentriert sich Unmut. Wagte er es doch einmal, sich einfach auf Narrs Platz zu stellen, als der Zweiundsechzigjährige aus gesundheitlichen Gründen mal zu Hause bleiben musste. Samat verstieß damit gegen ungeschriebenes Wärschtlamo-Gesetz.
Dabei hätte es der 32jährige Wahl-Hofer besser wissen müssen. Er ist kein Neuer im Geschäft. An der Ecke Ludwigstraße/Karlstraße verkaufte er im Winter 1995 seine Würste. Nach wenigen Monaten widmete er sich aber wieder anderen Dingen.
Jetzt ist er zurück. Ausgerechnet in der Altstadt. Zum Verdruss der hier Alteingesessenen. Die Anfeindungen lassen Samat kalt. Das Recht, das weiß er vom Ordnungsamt, ist auf seiner Seite. Solange er Fußgänger- und zugelassenen Fahrzeugverkehr nicht behindert, kann er sich hinstellen, wo es ihm beliebt. Selbst auf angestammte Plätze der Kollegen, sofern er nur früher da ist. Momentan steht er zwischen "den alten Hasen" Junghans und Narr.

Harte Bandagen

Jüngeren Kollegen treibt’s angesichts derart aggressiven Geschäftsgebarens den Angstschweiß auf die Stirn. Ralf Herrmann am Oberen Tor, dem Eingang zur Altstadt, stöhnt: "Am Morgen darf man jetzt keine Minute mehr zu spät kommen." Was könnte er machen, wenn sein Platz besetzt ist?
Für Neueinsteiger war es auch früher schon nicht einfach. Helmut Junghans erinnert sic, wie’s war, als er anfing. Da hätten die anderen Wärschtlamänner den Metzger vor die Alternative gestellt: "Entweder der oder wir!"
Auch Samat wartete eines Tages vergeblich auf seinen Wurstlieferanten. Ein Zufall?
In der Altstadt wird angesichts des Konkurrenzdruckes mit harten Bandagen gekämpft. Das bekam zuletzt tauch Fadi Kalife zu spüren. Er musste seinen Platz vor der Altstadtpassage, den er fünf Jahre behauptet hatte, räumen. Heute steht dort das Werbeschild der hier ansässigen Metzgerei. Fadis Einspruch auf dem städtischen Ordnungsamt blieb ohne Wirkung. Als "Umherziehende" haben Wärschtlamänner keinen Anspruch auf einen festen Standplatz. Ob’s Sinn für Kalife gemacht hätte, den Wurstlieferanten zu wechseln?
Fast alle Hofer Wärschtlamänner beziehen ihre Ware von der Metzgerei Leupold. Bis auf Samat, wie gesagt.

Die Investition

Und bis auf Jörg Wunderer. Der 20jährige Hofer hat keinen Beruf gelernt. Mit Jobs hat er sich bisher durchs Leben geschlagen, mal als Fliesenleger gearbeitet, mal – zuletzt – als Koch. "Ich will dem Satt nicht auf der Tasche liegen", sagt er. Bei der grassierenden Arbeitslosigkeit wird es für einen wie ihn immer schwieriger. Wärschtlamo sein, begreift er folgerichtig nun als Neuanfang.
Dafür hat er einiges investiert: die Reisegewerbekarte kostet einmalig 250 Mark, eine einmalige Verwaltungsgebühr schlägt zusätzlich mit 50 Mark zu Buche, und für die Sondernutzungserlaubnis, die die Kategorie A einschließt, sind weitere 100 Mark abzudrücken; der letzte Posten wird übrigens jeden Monat fällig.
Weitere Kosten: laut Vorschrift ein Messingkessel – Wunderer begnügte sich mit einem gebrauchten – 700 Mark, ein Brötchenkorb 50 Mark, ein Eisenstühlchen für den Kessel 120 Mark, Senf, Holzkohle – gleich auf Vorrat eingekauft – 200 Mark
Die Lederjoppe mit wärmendem Fett fehlt ihm noch, und "auch die warmen Stiefel" sagt er mit Blick auf seine Turnschuhe. Hat er Stehvermögen? "Wird sich zeigen", sagt er. Und das freundliche Wort für die Kunden? "Fällt mir nicht schwer." Zwei Wochen ist er nun im Geschäft. An mehreren Tagen dabei vor einem Geldinstitut - in der Altstadt. Sein Fazit: "Ich bin zufrieden."
Der Markt regelt sich selbst, lautet das Credo der freien Marktwirtschaft. Nicht allein der Markt, wissen Wärschtlamänner. Kälte und Hitze, Sonne und Wind, Regen und Schnee forderten ihren Tribut. Werner Narr vertraut denn auf diese "natürliche Auslese": Er habe viele anfangen sehen, sagt er, "doch die wenigsten haben dann auch durchgehalten".